
Assistierter Suizid in Deutschland: Ein einfaches „Nein“ reicht nicht aus
Die katholische Akademie „Die Wolfsburg“ und die Beteiligungsgesellschaft des Bistums Essen haben über Konsequenzen des Bundesverfassungsgerichts-Urteils zur Sterbehilfe für katholische Einrichtungen diskutiert.
Die Antworten sind noch nicht gefunden, aber die Fragen sind gestellt. Im Umgang mit der Sterbehilfe braucht Deutschland neue Gesetze, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot des geschäftsmäßig betriebenen assistierten Suizids gekippt hatte. Katholische Krankenhäuser, Altenpflegeeinrichtungen, Hospize und Beratungsstellen stehen nun vor grundsätzlichen Klärungen.
Wenn gemäß des Urteils die Möglichkeit eines assistierten Suizids allen eröffnet wird – wie soll man im katholischen Haus dann umgehen mit dem Wunsch von Sterbewilligen und deren Angehörigen? Denn der bedingungslose Schutz des von Gott geschenkten Lebens bis zum letzten Moment gehört zum Kern des religiösen Bekenntnisses.
40 Führungskräfte großer Kranken- und Pflegeeinrichtungen im Bistum Essen haben sich am 28. April 2021 unter fachlichem Input der Berliner Diözesancaritasdirektorin Ulrike Kostka mit diesen Fragen befasst. Unter den Beteiligten zeigte sich an diesem Nachmittag ein differenziertes persönliches Meinungsbild: Soll man in extremen Leidenssituationen Suizid-Beihilfe mit eigenem Personal ermöglichen, lieber erschweren oder ganz verhindern? Gastgeber der Online-Tagung „Assistierter Suizid – Stand der Debatte und organisationsethische Diskussion“ waren die Beteiligungsgesellschaft des Bistums Essen (BBE) und die katholische Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim an der Ruhr.
Selbsttötung: Das Gerichtsurteil verschiebt die Grenzen des Möglichen
„Menschen haben immer schon gesagt: Ich möchte sterben – hilf mir dabei. Es gibt aber eine Grenze des Möglichen, und diese Grenze ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt stark verschoben worden“, sagte Ulrike Kostka, die neben ihrer Funktion als Caritasdirektorin für das Erzbistum Berlin auch außerplanmäßige Professorin für Moraltheologie in Münster ist.
Das Gericht formuliere erstmals ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben unabhängig von der Motivation des Betroffenen. Der muss, um dieses Recht in Anspruch zu nehmen, nicht schwer leiden, unheilbar krank oder steinalt, nicht einmal volljährig sein – der Suizid ist laut Urteil an keine Bedingung mehr geknüpft. Ein subjektiv empfundener Mangel an Lebensqualität reicht aus; die Verfassung schützt vor allem die Freiheit des Einzelnen.
In der Online-Diskussion wurde deutlich: Das Urteil betrifft nicht nur Alte und Schwerkranke, sondern Suizid ist in der Realität auch ein Thema für junge Menschen und Erwachsene in der Lebensmitte, die keine Lebensfreude mehr empfinden, keinen Sinn sehen, sich einsam fühlen, psychisch belastet sind, vielleicht von Liebeskummer oder Geldsorgen erdrückt werden. Hier sind Suizidprävention und psycho-soziale Begleitung notwendig, damit die Betroffenen neue Lebensfreude finden – so definieren katholische Einrichtungen ihre Aufgabe.
Suizid-Willige katholisch beraten? „Da kommt es zum Schwur“
Das Urteil hat in Fragen der Selbstbestimmung über das eigene Leben einen Dammbruch ausgelöst. Kostka sieht es als Aufgabe der katholischen Dienste und Einrichtungen an, Menschen in Lebenskrisen zu begleiten. In solchen Krisen könne es dazu kommen, dass Menschen auch den Wunsch äußern, ihr Leben zu beenden: „Wenn jemand in seiner Krisensituation beraten werden und sich geborgen fühlen möchte, soll man sich da etwa zurückziehen und ihn allein lassen mit seiner Entscheidung? Da kommt es zum Schwur.“ Kostka betonte, dass es Aufgabe der Begleitung sei, Lebensperspektiven mit dem Menschen zu entwickeln.
Freilich kann trotz des Gerichtsurteils kein Gesetz jemanden – etwa aus der Ärzteschaft – verpflichten, einem Sterbewilligen bei der Umsetzung seines Vorhabens zu assistieren. „Aber wie gehen wir künftig arbeitsrechtlich damit um, wenn Caritas-Mitarbeitende sich ehrenamtlich in der Sterbehilfe engagieren?“, fragte Kostka. Einen ärztlich assistierten Suizid werde es in katholischen Einrichtungen nicht geben. Dennoch könnten sich durch die veränderte Rechtslage Berührungspunkte für Einrichtungen und Seelsorge ergeben, vermutete die Moraltheologin. In Konfrontation mit dem ärztlich assistierten Suizid sei deshalb ein einfaches „Nein“ der Kirche keine ausreichende Antwort: „Deshalb ist es so wichtig, sich mit diesen Berührungspunkten und den Fragen auseinanderzusetzen. Ebenso kann das Urteil nicht bedeuten, dass wir uns aus unseren Kernaufgaben in Krankenhäusern oder Pflegeheimen zurückziehen“, so Kostka.
Im Hospiz: Kerze ins Zimmer stellen und weggehen, wenn der Sterbehelfer kommt?
Ganz praktische Fragen kamen während der Diskussion von den Hospizvertretern: Wenn die Sterbe-Organisation ins Haus käme, stellt man dann vorher noch eine Kerze ins Zimmer? Informiert man die Zimmernachbarn? Wann verlässt man den Raum? „Würden die Hospize künftig Sterbehilfe anbieten, würde das Selbstverständnis der Hospizkultur ausgehöhlt.“ Wie schwierig die Grenzziehung zwischen persönlicher Zuwendung und weltanschaulicher Abgrenzung ist, zeigte ein Statement aus der Pfarreiseelsorge gegenüber dem Umgang mit Sterbewilligen: „Weil mir dein Kontext nicht gefällt, verweigere ich dir nicht die Begleitung. Nur ein Nein wäre geradezu unanständig im Sinne des Evangeliums.“
Derzeit wird das Urteil in ein neues Gesetz gegossen. Ob das bis zur Bundestagswahl im September gelingen kann, ist angesichts so vieler komplexer Fragen unsicher. Die katholische Kirche und ihre Caritas setzen auf mehr Palliativ-Versorgung, auf psychosoziale und seelsorgerliche Beratung statt einsamem Todeswunsch. „Eine Phase der Nachdenklichkeit“ nennt Kostka den aktuellen Status: „Es gibt kein reines Expertenwissen.“
Text: Cordula Spangenberg | Caritasverband im Bistum Essen
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